Montag, 28. September 2009

Improperien: Kein Antisemitismus

Zugegeben, es ist nicht ganz die passende Zeit, wenige Wochen vor dem Advent noch einmal auf den Karfreitag zurückzugreifen. Aber manche Themen sind eben ein Dauerbrenner. Vor allem die Diskussion um die katholische Kirche und ihren vermeintlichen Antisemitismus, die von gewissen Interessengruppen nur zu gerne lebendig gehalten wird.

Als Kirchenmusiker ist es mir eine Ehre und eine große Freude, das liturgische Jahr in meinen Dienstgemeinden angemessen mitgestalten zu können, und durch die Musik manches zu be-tonen, was mit dem bloßen Wort alleine möglicherweise nicht ausreichend gesagt werden kann.

Jedes Jahr liegt mir allerdings schon Wochen vor dem Karfreitag ein Gesang quer, der die Osterfreude etwas trübt. Nein, nicht der Gesang an sich, sondern vielmehr die unvermeidliche Diskussion darüber, die wie bestellt entweder am Gründonnerstag losbricht oder den Kantor direkt nach der Karfreitagsliturgie heimsucht. Die Rede ist von den Improperien.

Die Improperien, lat. Vorwürfe, Klagen, sind Worte, die im Wechselgesang aus Ereignissen des Alten Testaments und des Leidensweges Christi, gewissermaßen analog dem späteren Kreuzweg, zusammengestellt, dem Heiland am Kreuz in den Mund gelegt werden. Ihr Ursprung liegt vermutlich in der mozarabischen Liturgie. Sie werden auf eine sehr alte, gregorianische Melodie gesungen, die jedoch erst 1474 in das Römische Missale aufgenommen wird. Eine Ausnahme bildet die Liturgie der Sixtinischen Kapelle, wo sie seit 1560 in einer Fauxbourdon-Bearbeitung von Giovanni Pierluigi da Palestrina gesungen werden. Die bei uns übliche eingedeutschte Gotteslob-Fassung (GL 206) ist der gregorianischen gegenüber stark - und nicht ganz unproblematisch - verkürzt.


Die Übertragung des lateinischen Textes lautet:

Mein Volk, was habe ich dir getan,
womit nur habe ich dich betrübt?
Antworte mir.

Aus der Knechtschaft Ägyptens habe ich dich herausgeführt.
Du aber bereitest das Kreuz deinem Erlöser.
Heiliger Gott.
Heiliger, starker Gott.
Heiliger, starker, unsterblicher Gott, erbarme dich unser.
Vierzig Jahre habe ich dich geleitet durch die Wüste.
Ich habe dich mit Manna gespeist
und dich hineingeführt in das Land der Verheißung.
Du aber bereitest das Kreuz deinem Erlöser.

Was hätte ich dir mehr tun sollen und tat es nicht?
Als meinen erlesenen Weinberg pflanzte ich dich,
du aber brachtest mir bittere Trauben,
du hast mich in meinem Durst mit Essig getränkt
und mit der Lanze deinem Erlöser die Seite durchstoßen.

Deinetwegen habe ich Ägypten geschlagen
und seine Erstgeburt,
du aber hast mich geschlagen und dem Tod überliefert.
  • A:Mein Volk...

Ich habe dich aus Ägypten herausgeführt
und den Pharao versinken lassen im Roten Meer,
du aber hast mich den Hohenpriestern überliefert.
  • A: Mein Volk ...

Ich habe vor dir einen Weg durch das Meer gebahnt,
du aber hast mit der Lanze meine Seite geöffnet.
  • A: Mein Volk ...

In einer Wolkensäule bin ich dir vorangezogen,
du aber hast mich vor den Richterstuhl des Pilatus geführt.
  • A: Mein Volk ...

Ich habe dich in der Wüste mit Manna gespeist,
du aber hast mich ins Gesicht geschlagen
und mich gegeißelt.
  • A: Mein Volk ...

Ich habe dir Wasser aus dem Felsen zu trinken gegeben und dich gerettet,
du aber hast mich getränkt mit Galle und Essig.
  • A: Mein Volk ...

Deinetwegen habe ich die Könige Kanaans geschlagen,
du aber schlugst mir mit einem Rohr auf mein Haupt.
  • A: Mein Volk ...

Ich habe dir ein Königszepter in die Hand gegeben,
du aber hast mich gekrönt mit einer Krone von Dornen.
  • A: Mein Volk ...

Ich habe dich erhöht und ausgestattet mit großer Kraft,
du aber erhöhtest mich am Holz des Kreuzes.
  • A: Mein Volk ...


Auf dem ersten Blick ist durchaus eine antisemitische Interpretation möglich, und es soll nicht verschwiegen werden, dass es im Laufe der Kirchengeschichte durchaus zu einer solchen "Eisegese" gekommen ist. Verständlich, dass auf diesem und dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte ein gewisses Unbehagen bei der Betrachtung dieses Textes entsteht. Ein Mitglied einer Schola, die ich vor Jahren geleitet habe, verweigerte sich sehr engagiert mit dem Hinweis auf ein Benediktinerinnenkloster, dass diesen Gesang vollkommen abgeschafft habe, da die antisemitischen Töne in der Liturgie "überholt" seien.

Nun kann man diesen Schwestern sicherlich einen guten Willen attestieren - aber einen verheerenden Mangel an theologischer Kenntnis gleich dazu. Wer diesen Gesang beurteilen will, darf nicht am Karfreitag stehenbleiben, sondern muss das gesamte Heilswerk Christi, besonders aber die Tage vom Palmsonntag bis über die Auferstehung hinaus bedenken.

Sind die Improperien ein Vorwurf an die Synagoge? Oder gar an die heute lebenden Juden? Absolut nicht! Wer Ostern feiern will, muss sich vergegenwärtigen, warum Jesus den Sühnetod auf sich genommen hat. Die Lehre vom Sühnetod Christi geht auf Paulus zurück, wird dann aber zunächst von Augustinus vertieft, der die Lehre von der Erbsünde entwickelt:

Adam, als Urvater der Menschheit hat sich durch die Sünde von Gott abgewendet. Seitdem steht die Sünde zwischen Gott und den Menschen. Man kann sagen, dass Sünde die bewusste Abwendung von einem höheren Gut, vom Schöpfer, ist, hin zum niederen Gut, dem Geschaffenen. Der Tanz um das Goldene Kalb wird im Alten Testament dann ganz deutlich zum Symbol dieser Tendenz. Um die Schuld der Menschheit zu sühnen, muss Gott seinen eigenen Sohn als Opfer darbringen, denn die Menschheit wäre nicht in der Lage, die Last ihrer Sünden alleine zu tragen. Diese zunächst recht schwierige "Satisfaktionslehre" wird von Anselm von Canterbury detailliert entwickelt. Wir durften jüngst erleben, dass sogar der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz seine liebe Not hatte, den Tod Christi zu erklären. Es handelte sich eben nicht einfach um ein "solidarisches" Sterben "mit uns", sondern um ein Sterben "für uns". Ein gewaltiger Unterschied! Schlimm, dass Bischöfe offensichtlich nicht mehr in der Lage sind, die einfachsten Grundlagen unseres Glaubens zu erklären.

Wenn wir also diesen Hintergrund berücksichtigen, und bedenken welche Texte die Liturgie der Osternacht prägen, muss uns einsichtig werden, dass mit "meinem Volk" keinesfalls die damals oder heute lebenden Juden gemeint waren. Sondern wir alle sind gemeint.

Besonders deutlich wird das, wenn wir die Improperien mit den alttestamentlichen Texten der Osternacht und den Antwortpsalmen gewissermaßen gegenlesen¹: "Lobe den Herrn, meine Seele! Herr, mein Gott, wie groß bist du!" - "Du, Herr, gibst mir das Erbe und reichst mir den Becher; Du hältst mein Los in deine Händen." - "Ich singe dem Herrn ein Lied, denn er ist hocherhaben" - "Ich will dich rühmen, Herr, denn du hast mich aus der Tiefe gezogen und lässt meine Feinde nicht über mich triumphieren."

Die Psalmen sprechen nicht in der Man-Form, sondern ich selbst stehe vor dem Herrn und danke ihm für seine Güte. Die Kirche singt mit Christus das Lob des ewigen Gottes. Direkt vor dem Tagesgebet wird dann der Bogen geschlagen zwischen den Heilstaten Gottes im Alten Testament, dem Opfer Christi und damit der Erfüllung der Verheißung im Neuen Testament. Gleichzeitig bietet sich dieses Gebet auch an als Zusammenfassung meiner vorhergehenden Ausführungen:
Herr, unser Gott, durch die Schriften des Alten und des Neuen Bundes führst du uns ein in das Geheimnis dieser heiligen Nacht. Öffne unsere Augen für das Werk deines Erbarmens und schenk uns durch die Gnade dieser Osternacht die feste Zuversicht, dass auch unser Leben in deiner Herrlichkeit vollendet wird.
Die Klagen des Heilandes am Kreuz sind also nicht nur an das Volk Israel oder die Juden allgemein gerichtet, sondern sie stehen ganz in der Tradition der Propheten, die das Volk angesichts der Heilstaten Gottes zu Umkehr und Buße mahnt (vgl. z. B. Micha 6 oder Jesaja 5). Einen weiteren Beleg dafür finden wir im Passionslied "O Haupt, voll Blut und Wunden" (GL 179, 4 u. 5), wo die ganze Frage nach Sünde, Sühne und Erlösung zum Ausdruck kommt:
Was du, Herr, hast erduldet, ist alles meine Last.
Ich, ich hab es verschuldet, was du ertragen hast. [...]

Ich danke dir von Herzen, o Jesu, liebster Freund,
für deines Todes Schmerzen, da du's so gut gemeint.

Wer also in einem Anfall von political correctness in den Improperien Antisemitismus verortet, ist auf einem ausgesprochenem Holzweg. Ja, es liegt sogar die Gefahr nahe, durch eine Schuldzuweisung an die Juden sich gewissermaßen selbst auf dem bequemsten Weg freizusprechen. Das Heilwerk Christi kann nur feiern, wer sich seines eigenen Versagens vor Gott bewusst ist; zu verstehen versucht, welche Liebestat seine Hingabe am Kreuz war, die den ewigen Tod für immer besiegt hat. Die Improperien sind dazu ein Aufruf an mich persönlich. Und an jeden von uns!

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¹) Textauszüge als Beispiel, hier Lesejahr A

3 Kommentare:

  1. Ich habe als Kind schon diese Improperien geliebt; unser Pfarrer hat sie damals am Karfreitag immer gesungen! Mein jetziger Pfarrer steht nicht so drauf.
    Aber: es wäre mir wirklich niemals in den Sinn gekommen, darin einen Angriff auf das jüdische Volk zu sehen, sondern ich selbst entdecke ja an mir immer wieder, wie ich (als Teil des "Volkes Gottes") immer wieder den Herrn verrate, aus Schwäche, aus Scham etc. Also ich hab das immer auf mich bezogen, nie auf die die Juden. Aber kann es nicht auch sein, dass es modern ist, sich ständig angegriffen zu fühlen?

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  2. Ja, in immer mehr Pfarreien drückt man sich verlegen um diese Gesänge herum. Aus reiner "political correctness" heraus verpasst man sich selbst einen Maulkorb, und sorgt vermutlich dadurch überhaupt erst für die Aufmerksamkeit, die dann in einen Empörungs-Automatismus mündet.

    Man könnte das vielleicht mit dem Trara um die neue Karfreitagsfürbitte "für die Juden" vergleichen: da wird eine Fürbitte neu formuliert, und alles regt sich auf. Kein Mensch hatte vorher bemerkt, dass eine viel deutlichere Formulierung zuvor schon seit Jahrhunderten in Gebrauch war...

    Das Thema ist heikel, und offenbar ist bei vielen Beteiligten leider auch ein gewisser Krawallwille vorhanden.

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  3. Ich verstehe gar nicht, was man, selbst bei Bemühung der antisemitischen Keule daran finden kann: da spricht (unter anderem) ein Jude zu seinem Volk: Mein Volk, was tat ich Dir?

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