Montag, 2. November 2009

Aufruf zur Rettung der Sequenz

Heute am Allerseelentag haben wir eine der letzten Möglichkeiten, die Sequenz "Dies irae" zu ihrem Recht kommen zu lassen. Die nach dem II. Vatikanischen Konzil erneuerte Liturgie sieht sie nur noch zum Requiem an Allerseelen oder ad libitum im heutigen Offizium vor.



Die Geschichte der Sequenz beginnt um 850 (also sehr bald nach oder noch während der Entstehung des gregorianischen Kernrepertoires). Zunächst wurden die langen Melismen des Alleluia mit Texten unterlegt (möglicherweise als Lernhilfe?). Daraus wurde sehr schnell eine eigenständige Kunstform, die sich großer Beliebtheit erfreute. Mehr als 5.000 Sequenzen sind im hohen Mittelalter bekannt. Das Tridentinische Konzil (Trient, 1545-1563) griff hart gegen diesen zunehmenden Auswuchs durch, und reduzierte die Zahl auf nur noch vier in der Liturgie zu verwendende Gesänge: Victimae Paschali Laudes am Osterfest, Veni Sancte Spiritus an Pfingsten, Lauda Sion Salvatorem für das Fronleichnamsfest, in der in Merksätzen die Eucharistielehre des IV. Laterankonzils dargelegt wird und die leider nur noch fakultativ ist, sowie das Dies Irae für das Requiem, seit dem II. Vatikanischen Konzil nur noch in der oben beschriebenen Einschränkung. 1727 kam für das Fest der Sieben Schmerzen Mariens die berühmte Sequenz Stabat Mater hinzu.



Zunächst einmal ist bedauernd zu konstatieren, dass die Sequenzen kaum noch irgendwo gesungen werden. Die Oster- und Pfingstsequenzen erlebt man nur noch mancherorts, obwohl sie verpflichtend sind!, die drei anderen Sequenzen eigentlich nie. Das erstaunt umso mehr, da die Mehrheit der Sequenzen im "Gotteslob" sogar in lateinischer und deutscher (singbarer) Form abgedruckt sind. Das Sprachproblem scheidet also ebenso aus, wie eine zu schwere Melodie. Offenbar ist ein gehörig Maß Bequemlichkeit im Spiel, sowie die ständige Angst, es "könnte zu lange dauern".

Gerade gegen "Dies Irae" werden aber noch weitere Geschütze aufgefahren, auf die man überall in der (nachkonziliaren) Fachliteratur oder nur beim Googlen im Internet stößt: Die Sequenz sei nicht mehr angemessen, da sie das Bild eines wütendes Gottes vermittele, den Sänger mit subjektiver Schuld und Versagen (vulgo: Sünde) konfrontiere, Christus als Richter charakterisiere und vieles andere mehr. Die Leute, die diese Kritik vorbringen, haben vollkommen recht: das alles ist in diesem Gesang enthalten. Doch stelle ich nichts fest, was nicht auf der biblischen Offenbarung fußt. Offenbar geht es hier gar nicht um textliche Schwierigkeiten, sondern das Bild des "lieben Gottes" und "Christus, unseres Bruders" soll nicht angekratzt werden. Wir wollen uns nicht an unsere eigene Fehlerhaftigkeit erinnern lassen.

Ganz in diesem Stil ist man ja schon im "Gotteslob" vorgegangen: es wurde nur eine Auswahl aus dem Buch der Psalmen abgedruckt. Alle Psalmen, die Wut, Rachegedanken und Verzweifelung enthalten und gerade so eigentlich ein wunderbarer Spiegel menschlicher, echter Emotion wären (Wer hat im Moment der Wut noch nie jemanden in Gedanken verflucht?) sind nicht enthalten. Und auch die ins Gesangbuch aufgenommenen Psalmen wurden strikt zensiert, da man die heftigeren Stellen aus der "Einheitsübersetzung" wohl nicht übernehmen wollte. Wenige wissen, dass schon die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift an dieser Stellen ziemlich manipulierend übersetzt; ja, der Psalter ist sogar einer der schwächsten Teile der seit Langem und nicht zu Unrecht kritisierten Übersetzung!

Ich möchte am heutigen Allerseelentag einfach den Text mit der bekannten deutschen Übersetzung zur Lektüre und zum Nachdenken anbieten. Wenn er schon in der Liturgie nicht mehr erklingt, so kann er doch für den ein oder anderen möglicherweise Bestandteil des persönlichen Gebetsschatzes werden:


Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla.
Teste David cum Sibylla.
Tag der Rache, Tag der Sünden,
Wird das Weltall sich entzünden,
Wie Sibyll und David künden.

Quantus tremor est futurus,
Quando judex est venturus,
Cuncta stricte discussurus.
Welch ein Graus wird sein und Zagen,
Wenn der Richter kommt, mit Fragen
Streng zu prüfen alle Klagen!

Tuba mirum spargens sonum
Per sepulchra regionem,
Coget omnes ante thronum.
Laut wird die Posaune klingen,
Durch der Erde Gräber dringen,
Alle hin zum Throne zwingen.

Mors stupebit et natura
Cum resurget creatura,
Judicanti responsura.
Schaudernd sehen Tod und Leben
Sich die Kreatur erheben,
Rechenschaft dem Herrn zu geben.

Liber scriptus proferetur,
Un quo totum continetur,
Unde mundus judicetur.
Und ein Buch wird aufgeschlagen,
Treu darin ist eingetragen
Jede Schuld aus Erdentagen.

Judex ergo cum sedebit,
Quidquid latet apparebit,
Nil inultum remanebit.
Sitzt der Richter dann zu richten,
Wird sich das Verborgne lichten;
Nichts kann vor der Strafe flüchten.

Quid cum miser tunc dicturus?
Quem patronum rogaturus,
Cum vix justus sit securus?
Weh! Was werd ich Armer sagen?
Welchen Anwalt mir erfragen,

Wenn Gerechte selbst verzagen?

Rex tremendae majestatis,
Qui salvandos salvas gratis,
Salva me, fons pietatis.
König schrecklicher Gewalten,
Frei ist deiner Gnade Schalten:
Gnadenquell, laß Gnade walten!

Recordare, Jesu pie,
Quod cum causa tuae viae,
Ne me perdas ille die.
Milder Jesus, wollst erwägen,
Daß du kamest meinetwegen,
Schleudre mir nicht Fluch entgegen.

Quaerens me sedisti lassus,
Redemisti crucem passus,
Tantus labor non sit cassus.
Bist mich suchend müd gegangen,
Mir zum Heil am Kreuz gehangen,

Mög dies Mühn zum Ziel gelangen.

Juste judex ultionis,
Donum fac remissionis
Ante diem rationis.
Richter du gerechter Rache,
Nachsicht üb' in meiner Sache,
Eh ich zum Gericht erwache.

Ingemisco tanquam reus,
Culpa rubet vultus meus,
Supplicanti parce, Deus.
Seufzend steh ich schuldbefangen,
Schamrot glühen meine Wangen,
Laß mein Bitten Gnad erlangen.


Qui Mariam absolvisti,
Et latronem exaudisti,
Mihi quoque spem dedisti.
Hast vergeben einst Marien,
Hast dem Schächer dann verziehen,
Hast auch Hoffnung mir verliehen

Preces meae non sunt dignae,
Sed tu, bonus, fac benigne,
Ne perenni cremer igne.
Wenig gilt vor dir mein Flehen;
Doch aus Gnade laß geschehen,
Daß ich mög der Höll entgehen.

Inter oves locum praesta,
Et ab hoedis me sequestra,
Statuens in parte dextra.
Bei den Schafen gib mir Weide,
Von der Böcke Schar mich scheide,
Stell mich auf die rechte Seite.

Confutatis maledictis,
Flammis acribus addictis,
Voca me cum benedictis.
Wird die Hölle ohne Schonung
Den Verdammten zur Belohnung,
Ruf mich zu der Sel'gen Wohnung.

Oro supplex et aclinis,
Cor contritum quasi cinis,
Gere curam mei finis.
Schuldgebeugt zu dir ich schreie,
Tief zerknirscht in Herzenstreue,

Sel'ges Ende mir verleihe.

Lacrimosa dies illa
Qua resurget ex favilla
Judicandus homo reus.
Tag der Tränen, Tag der Wehen,
Da vom Grabe wird erstehen
Zum Gericht der Mensch voll Sünden!

Huic ergo parce Deus,
Pie Jesu Domine,
Dona eis requiem!
Laß ihn, Gott, Erbarmen finden,
Milder Jesus, Herrscher du,

Schenk den Toten ew'ge Ruh.


Ich persönlich empfinde diesen Text gar nicht als so düster, rachsüchtig oder angsteinflößend, wie oft behauptet wird. Vielmehr handelt es sich um eine Seele in Bedrängnis, die sich der Macht Gottes bewusst wird, jedoch nicht daran irre wird, sondern den Herrn um Gnade anfleht. Wohl wissend, dass der Herr seine Gnade reichlich gewährt, wie besonders in der Strophe deutlich wird, in der der Beter sich an Maria Magdalena und den Verurteilten am Kreuz erinnert. Doch nicht nur für sich bittet der Dichter der Sequenz (und damit wir, die den Text beten) um Gnade, sondern er schließt die gesamte Menschheit mit ein.

Kurz: an diesem Text ist nichts, was anstößig, außerbiblisch oder unverhältnismäßig subjektiv wäre. Im Gegenteil gibt es viele wunderbare Bilder in diesem Werk zu entdecken, die von Komponisten aller Zeiten klanglich teilweise wunderbar ausgedeutet wurden, wie die zwei hier angefügten Beispiele belegen.

Wer das "Dies irae" aus den genannten Gründen abgeschafft sehen will, verrät weniger theologischen Tiefgang oder pastorale Sorge, sondern bietet eine bedenkliche Innenansicht, die die eigene Sündhaftigkeit, Erlösungsbedürftigkeit vergisst, und das Angebot Gottes nur allzu leicht ausschlägt!



Dass Christus für uns den ewigen Tod überwunden hat, darf uns nicht zu der irrigen Annahme eines Heilsautomatismus führen. Der Herr kam bekanntlich nicht, um das Gesetz zu verwerfen, sondern es zu erfüllen.


Nachtrag: Auch STANISLAUS nimmt sich des Allerheiligenfestes an. Gerne verweise ich Interessierte auf seinen Beitrag, der noch einen weiteren interessanten Aspekt aufgreift!

7 Kommentare:

  1. Ein schöner Artikel. Vielen Dank! Möge der Aufruf, die Sequenz wenigstens im persönlichen Gebet zu bedenken, reiche Frucht bringen.

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  2. Schließe mich den Vorrednern an!
    Vielen Dank für den Artikel!

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  3. Gern geschehen!

    Ich hatte diesen Text heute Morgen im Schnellverfahren zusammengezimmert, und habe jetzt noch schnell zwei Sätze geändert und einige Rechtschreibfehler eleminiert.

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  4. Eine meiner Lieblingsvertonungen ist und bleibt diejenige von Mozart:

    http://www.youtube.com/watch?v=M_YSEbAWA0Y

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  5. Mozart ist einfach nur genial! Ich liebe das "Dies irae" auch. :-)

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  6. Danke für den interessanten Artikel! Ich gehöre zu denen, die noch nie im Gottesdienst sowas gesungen haben. Ich musste auch im Gotteslob mal erst suchen. Die Texte der Lieder sind wirklich schön. Zwar kann ich die Noten nicht, aber ich meine man sollte das wirklich mal häufiger singen!

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