Montag, 2. November 2009

Ein bemerkenswerter Kirchenmusiker

Im Jahr 1986 erhält Nikolaus Winter aus Büchenbach bei Roth die Hiobsbotschaft »MS«. Auch wenn er dann nicht wie viele andere Patienten denkt, dass das Leben nun gelaufen sei, so hat es gedauert und ihn fast seine Ehe gekostet, bis er sich aufmacht und beginnt, gegen die Krankheit zu kämpfen. Multiple Sklerose ist eine tückische Krankheit, über die die Ärzte immer noch wenig wissen. [...]

Man weiß nie, wann und ob der nächste Schub kommt, wie stark er ausgeprägt sein wird und ob oder wie weit die Lähmungen wieder zurückgehen werden. Und jeder, völlig aus dem Nichts auftauchende »Schub«, bringt neue irreversible Schäden an den Nervenbahnen. »Bei mir hat's eben die Beine und die linke Hand erwischt«, erklärt Winter. Seit zehn Jahren sitzt er im Rollstuhl.

»Natürlich habe ich mit Gott gehadert und immer wieder gefragt: Warum ich?«, erklärt Winter, aber ans Aufgeben der Kirchenmusik habe er nie gedacht. Jahrelang leitete Winter etliche weltliche und kirchliche Chöre im Umkreis seines Wohnorts. Seit drei Jahren ist es nur noch der katholische Kirchenchor St. Georg in Ellingen bei Weißenburg.

Und der erst recht, könnte man meinen. Wenn Winter nach seinem Vollzeitjob als Verwaltungswirt abends nach Hause kommt, total kaputt ist, die MS ihn mürbe macht, dann ist für ihn die Chorprobe wie ein Jungbrunnen. »Wenn ich dann ein Stück einstudiere oder dirigiere, kann ich mich so richtig in die Musik hineinlegen. Und wenn ich dann nach Hause komme, ja dann bin ich wieder fit und kann weitermachen.« Zum Beispiel Gedichte schreiben oder ein neues Chorlied arrangieren. Weitere Leidenschaft Winters sind seine drei erwachsenen Kinder und seine beiden kleinen Enkel: Wenn die sich anmelden, gibt es ein Wettrennen, Rollstuhl gegen Bobbycar. [...]

Im St.-Georgs-Chor hat Winter 26 Sängerinnen und Sänger zwischen 18 bis 84 Jahren unter sich. Und die sind froh, dass sie ihn haben. Jeden Mittwoch werden Stimmen trainiert, Motetten geübt und das »Gloria« geschmettert. »Und«, sagt Bass-Stimme Manfred Specht, »mir gefällt an dem Mann, dass er immer gut drauf ist.« »Und«, fügt er lachend hinzu, »er macht sein Sache genauso gut wie jemand, der auf zwei Beinen steht.«

Behinderung hin, Behinderung her, in Ellingen singt man trotzdem auf Augenhöhe. Die engagierten Sänger haben dem vielleicht einzigen deutschen Dirigenten im »Rolli« einfach ein Podest gebaut. Und wenn dann sonntags in der Kirche nicht nur in der Andacht, sondern sogar mal eine lateinische Messe gesungen werden soll? »Da haben wir den Herrn Winter auch schon mitsamt seinem Rollwagen hinaufgetragen«, erläutert der 73-jährige Manfred Specht: »Da packen vier Mann an, und schwupps ist er droben.«

Rücksicht ist gut, nur Mitleid will Nikolaus Winter nicht. Und auch anderen MS- Kranken will er Mut machen, sich nicht gehen zu lassen, sondern beherzte Schritte in ein selbstbestimmtes Leben zu wagen. [...]
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Quelle: SONNTAGSBLATT BAYERN

1 Kommentar:

  1. Ein sehr schöner Bericht! Wie belastend diese Krankheit sein kann, weiß ich aus eigener Erfahrung nur zu gut.

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