Man weiß nie, wann und ob der nächste Schub kommt, wie stark er ausgeprägt sein wird und ob oder wie weit die Lähmungen wieder zurückgehen werden. Und jeder, völlig aus dem Nichts auftauchende »Schub«, bringt neue irreversible Schäden an den Nervenbahnen. »Bei mir hat's eben die Beine und die linke Hand erwischt«, erklärt Winter. Seit zehn Jahren sitzt er im Rollstuhl.
»Natürlich habe ich mit Gott gehadert und immer wieder gefragt: Warum ich?«, erklärt Winter, aber ans Aufgeben der Kirchenmusik habe er nie gedacht. Jahrelang leitete Winter etliche weltliche und kirchliche Chöre im Umkreis seines Wohnorts. Seit drei Jahren ist es nur noch der katholische Kirchenchor St. Georg in Ellingen bei Weißenburg.
Und der erst recht, könnte man meinen. Wenn Winter nach seinem Vollzeitjob als Verwaltungswirt abends nach Hause kommt, total kaputt ist, die MS ihn mürbe macht, dann ist für ihn die Chorprobe wie ein Jungbrunnen. »Wenn ich dann ein Stück einstudiere oder dirigiere, kann ich mich so richtig in die Musik hineinlegen. Und wenn ich dann nach Hause komme, ja dann bin ich wieder fit und kann weitermachen.« Zum Beispiel Gedichte schreiben oder ein neues Chorlied arrangieren. Weitere Leidenschaft Winters sind seine drei erwachsenen Kinder und seine beiden kleinen Enkel: Wenn die sich anmelden, gibt es ein Wettrennen, Rollstuhl gegen Bobbycar. [...]
Behinderung hin, Behinderung her, in Ellingen singt man trotzdem auf Augenhöhe. Die engagierten Sänger haben dem vielleicht einzigen deutschen Dirigenten im »Rolli« einfach ein Podest gebaut. Und wenn dann sonntags in der Kirche nicht nur in der Andacht, sondern sogar mal eine lateinische Messe gesungen werden soll? »Da haben wir den Herrn Winter auch schon mitsamt seinem Rollwagen hinaufgetragen«, erläutert der 73-jährige Manfred Specht: »Da packen vier Mann an, und schwupps ist er droben.«
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Quelle: SONNTAGSBLATT BAYERN
Ein sehr schöner Bericht! Wie belastend diese Krankheit sein kann, weiß ich aus eigener Erfahrung nur zu gut.
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