Heute stieß ich auf einen Artikel in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Ein paar Auszüge aus diesem hochinteressanten Bericht:
Viele kommen nur für ihn in die Kirche und verlassen sie wieder, bevor der Gottesdienst beginnt. An Feiertagen sind es mehrere hundert Menschen, die Jean Guillou in Saint-Eustache lauschen, jener Kirche, die neben dem Park aufragt, wo früher die Markthallen standen. Manche hören mit geschlossenen Augen zu, so als schliefen sie, obwohl die Musik stellenweise dröhnt, sich zu spitzen Dissonanzen hochschraubt, und die Kirche bisweilen zu beben scheint, bis dann wieder harmonischere Klänge zu vernehmen sind. Manchmal sind Touristen zu sehen, die offensichtlich nur zufällig ins Gratiskonzert gekommen sind und gefangen von den Klängen sich auf einem Stuhl niederlassen. Andere gehen verstört. [...]
Mehr noch als in Frankreich hat er in Deutschland seine Anhänger. [...] "Frankreich ist kein Land, in dem man Musik macht", sagt Guillou, auf Deutsch. Er sitzt in einem Nebenraum von Saint-Eustache und urteilt streng über sein Heimatland. Dagegen spricht, dass ihn seine Geburtsstadt Angers bereits im Alter von zwölf Jahren zum Organisten an der Kirche Saint-Serge machte. Und als er 15 war, nahm ihn das Pariser Konservatorium auf. Seit 1963 schließlich ist er Titularorganist von Saint-Eustache, eine der geschichtsträchtigsten Kirchen des Landes. Colbert, der die bisweilen noch heute geltende Industriepolitik Frankreichs begründete, liegt hier seit 1683 begraben. Molière, Madame Pompadour und Richelieu wurden hier getauft, Ludwig XIV. zelebrierte vor dem Altar seine Erstkommunion, und Mozart trauerte an gleicher Stelle um seine in Paris verstorbene Mutter. Aber Saint-Eustache hat auch Musikgeschichte geschrieben: Berlioz dirigierte die Uraufführung seines "Te Deum" und Liszt die "Graner Festmesse".In Frankreich hatte Guillou nach dem Konservatorium keine Anstellung gefunden, er ging nach Lissabon, wo es ihn aber nicht hielt. Dann holte ihn Karl Richter nach Deutschland [...]. Guillou schätzt die französischen Orgeln nicht sehr, für deutsche Orgeln hat er mehr übrig: "Die Orgelbauer in Deutschland, also etwa Klais, Kleuker oder Beckerath, haben nicht bloß alte Orgeln kopiert, sondern sich Gedanken um Innovationen gemacht und neuartige Instrumente gebaut."
Keine seiner bisher etwa 60 Kompositionen entspricht irgendeinem Mainstream. "Ich bin eher Gegen-Stream", scherzt er. Guillou bewegt sich ganz bewusst nicht in der Tradition französischer Orgel-Symphonik. Fremde Werke, auch großer Komponisten, orchestriert er kompromisslos um. "Man weiß nicht, wie Bach gespielt hat. Man weiß nur, dass er nicht wie die anderen Musiker des 18. Jahrhunderts spielte. Bach also zu spielen, wie man es im 18. Jahrhundert tat, ist falsch", argumentiert Guillou. [...]
Seine Kritiker schätzen zwar Guillous Technik, nicht aber seine Improvisierfreude. Er sei spezialisiert auf Abseitiges, Absonderliches und Widerspenstiges. Manchen ist sein Bach wegen Guillous Tempo- und Registerwechsel zu zerzaust. Und wenn der Meister seine "Scènes d'enfant" zum Besten gibt, sehen sie vor ihrem inneren Auge zahllose unerzogene Kinder herumtoben. Suspekt ist Guillou vielen auch deshalb, weil er kein Mann der Kirche ist. Das aber ist ein Thema, über das Guillou nicht so gern reden möchte.
In Saint-Eustache hält man trotzdem große Stücke auf ihn. "Ich habe wohl bald ein knappes Dutzend Priester überlebt", bemerkt Guillou. "Sie waren alle sehr nett zu mir und wussten, dass die Musik in dieser Kirche einen sehr hohen Stellenwert besitzt. Sie haben mich meine Musik spielen lassen." Über die angebliche Kulturhauptstadt Paris und besonders die Beamten, die für die Orgel in Saint-Eustache zuständig sind, verliert er wenig gute Worte. Tatsächlich gab es phasenweise überhaupt keine Orgel in der auf ihre Musik so stolzen Kirche. [...]
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